OTS0184 / 11.08.2011 / 18:11 / Channel: Politik / Aussender: Die Presse
Stichworte: Bildung / Gesamtschule / Innenpolitik / Pressestimmen / Universitäten


"Die Presse" - Leitartikel: Reform? Biete Gesamtschule gegen Studiengebühren . . ., von Rainer Nowak

Utl.: Ausgabe vom 12.08.2011 =


   Wien (OTS) - Der größte Kuhhandel der österreichischen
Bildungspolitik zeichnet sich ab. Aber Werner Faymann und Michael
Spindelegger fürchten sich vermutlich sogar davor.
Die Sozialdemokraten besinnen sich ihrer Wähler. Und wohl auch der
Vernunft. Immer mehr Genossen verabschieden sich vom Idealbild des
ungehemmten, freien Hochschulzugangs und sprechen sich für die
Möglichkeit von Zugangsbeschränkungen an den österreichischen
Universitäten aus. Die deutschen Studenten, die wegen des Numerus
clausus nach Österreich ausweichen, sind vielleicht der hysterisch
kommentierte Anlass für den Schwenk, nicht aber die Ursache. In der
SPÖ hat sich die Meinung durchgesetzt, dass die Qualität der Lehre
mit der Anzahl der Studierenden nicht nur nicht steigt, sondern sogar
sinkt. Und dass angesichts eines enormen Schuldenbergs nicht beliebig
viel Geld für den Hochschulbetrieb gedruckt werden kann, sondern mit
dem (zu) wenigen besser gehaushaltet werden muss. Das ist erfreulich,
positiv und kann hoffentlich auch durch die Ängstlichkeit vor
Entscheidungen und Veränderungen nicht wieder revidiert werden.
Bei einem anderen Dogma in der SPÖ ist der Prozess der
Meinungsbildung leider noch nicht so weit fortgeschritten: Zwar ist
von immer mehr hochrangigen Sozialdemokraten hinter vorgehaltener
Hand zu hören, dass die Partei mit Studiengebühren durchaus leben
könnte: Es sei ohnehin nur schwer zu argumentieren, dass sich die
Partei mit dem Nein zu einem finanziellen Beitrag zu den Kosten eines
Studiums nicht zuletzt auch für den Nachwuchs von gut Verdienenden
und Vermögenden starkmache. Diese Kurskorrektur trauen parteiintern
Werner Faymann die wenigsten zu, aber man soll die Hoffnung auf eine
Aktivierung der Kanzlerschaft in der zweiten Hälfte der Regierung
Faymann nicht aufgeben.
Möglich könnte die Änderung der bisherigen Parteilinie nur durch
einen Deal werden, der derzeit verhandelt wird, aber - wie immer in
der vormals großen Koalition - gute Chancen hat, in letzter Sekunde
zu platzen. Das Tauschgeschäft, das der größte politische Kuhhandel
der Zweiten Republik wäre, auch wenn Faymann und Michael Spindelegger
von einer Reform sprächen, ist so schlicht wie absurd. Wenn die SPÖ
ihr Dogma entsorgt, verzichtet auch die ÖVP auf das ihre: Die
Volkspartei könnte ihren schon traditionellen Widerstand gegen die
flächendeckende Einführung der gemeinsamen Schule aufgeben. Soll
heißen: Die Positionen werden nicht aus sachlichen Gründen
aufgegeben, sondern, um sie abzutauschen. Ausgerechnet der Tiroler
Landeshauptmann Günther Platter sprach einen solchen "Kompromiss" als
Erster aus. In der ihm eigenen charmanten Mischung aus Naivität und
Tollpatschigkeit wünschte er sich am Rande einer
Musikfestivaleröffnung mehr Bewegung in der Bildungspolitik und
forderte auch mehr Offenheit seiner eigenen Partei. Der Mann weiß,
wovon er spricht: Als ÖAAB-Vertreter kennt er jeden Betonkopf und
Blockadeposten des mächtigen Vereins. Es sind die Bildungspolitiker
vom Schlage eines Fritz Neugebauer, die mithelfen, dass die
gemeinsame Schule für Zehn- bis 14-Jährige als modern gilt, während
man etwa in deutschen Bundesländern die Abschaffung derselben für
progressiv hält.
Diese Entwicklung - etwa in Hamburg - hat auch Michael Spindelegger
beobachtet und überlegt, wie zu hören ist, sich noch stärker als
bisher die Verteidigung der Gymnasien auf die Fahnen zu schreiben.
Das macht einen Kompromiss mit der SPÖ nicht unbedingt
wahrscheinlicher und ist auch inhaltlich sowie strategisch nicht der
richtige Weg: Viel besser wäre es, Eltern wirklich frei entscheiden
zu lassen und den Ausbau der neuen Mittelschule auch weiterhin
zuzulassen, aber genau darüber zu wachen, dass weiterhin Gymnasien
zur Wahl stehen. Nimmt die Anziehungskraft der Neuen Mittelschule zu,
entpuppt sie sich als echte neue Schulform und nicht nur als neue
Verpackung der Hauptschule, spricht nichts gegen eine stärkere
Verbreitung des Angebots. Wird das öffentliche Gymnasium aber weiter
so stark nachgefragt, darf es nicht geschwächt werden.
Aber für den pragmatischen Zugang zur Bildungspolitik fehlt in beiden
Parteien der Mut an der Spitze. Mit Rücksicht auf Dogmen und alte
Parteitraditionen regiert, oder besser moderiert, es sich auch
einfach viel besser. Aufrufe zu Veränderung und Reformen überlassen
sie den Rednern diverser Festspiele in den Bundesländern.
Rückfragehinweis:
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