OTS0279 / 09.06.2011 / 18:26 / Channel: Politik / Aussender: Die Presse
Stichworte: Pressestimmen / Wissenschaft, Plagiat, Dissertation


"Die Presse"-Leitartikel: Der Plagiatsjäger versteht den Sinn einer Dissertation falsch, von Thomas Kramar

Utl.: Ausgabe vom 10.06.2011 =


   Wien (OTS) - Es mag sinnvoll sein, nach Plagiaten zu stöbern.
Wichtiger ist: Eine Doktorarbeit soll und muss über originelle,
eigenständige wissenschaftliche Forschung berichten.
Nein, sympathisch ist es nicht, wenn alte Dissertationen auf
abgeschriebene Passagen durchstöbert werden, um - oft Jahrzehnte
danach - einem Akademiker seinen Titel streitig zu machen. Es hat
einen Hauch von Sykophantentum, volkstümlicher gesagt: von
Vernaderei; und man darf auch fragen, ob solche Taten nicht nach
einiger Zeit - sagen wir: nach 15 Jahren - als verjährt angesehen
werden sollten.
Sei's drum. Wenn diese Aufarbeitung (proto-)akademischer
Vergangenheiten einem guten Zweck dient, dann wird man in Kauf
nehmen, dass sie ein bisschen an den Ruf "Bitte, Herr Lehrer, der
Alex wollte von mir abschreiben!" erinnert. Der gute Zweck liegt auf
der Hand: die Verbesserung des Niveaus der Arbeiten, die zu einem
akademischen Titel führen, damit die Steigerung der Achtung vor
wissenschaftlicher Arbeit. Denn eine Dissertation ist kein besserer
Maturaaufsatz, sondern der Bericht über geleistete Forschungsarbeit
und ihre Ergebnisse. (Dieser Satz ist übrigens beinahe ein
Selbstplagiat, ich habe ihn umformuliert, damit Sie mir nicht durch
geschickten Gebrauch des "Presse"-Online-Archivs draufkommen.)
Vor allem in den Naturwissenschaften ist es üblich, dass eine
Dissertation (auch) Ergebnisse enthält, die bereits in
Fachzeitschriften publiziert sind oder bald dort erscheinen werden.
Das mindert den Wert der Doktorarbeit nicht, es erhöht ihn. Eine
Dissertation aus Physik oder Genetik, deren Inhalt nicht auch in
mindestens einer Publikation verwertet wird oder wurde, ist nicht
viel wert.
Bei der Habilitation, dem nächsten Schritt in der akademischen
Karriere, ist das "Selbstplagiat" längst institutionalisiert: Eine
"kumulative Habilitation" besteht aus mehreren Originalartikeln, die
mit einem Vorwort versehen sind. In vielen Ländern sind auch schon
"kumulative Dissertationen" gang und gäbe.
So wirkt es etwas anachronistisch, wenn der "Plagiatsjäger" Stefan
Weber nun dem grünen Politiker Peter Pilz vorwirft, er habe eine
"Studie einfach in seine Dissertation hineinkopiert". Was Pilz ja
zugegeben hat, wenn auch mit der beschönigenden Formulierung, die
Dissertation "fuße" auf der Studie.
Ein wenig problematisch ist, dass die Studie von zwei Autoren war,
die Dissertation aber zwangsläufig nur Pilz' Namen trägt. Solche
Fälle sind in der Naturwissenschaft, in der die meisten Publikationen
mehrere Autoren haben, alltäglich und werden meist ohne Streit und
Neid gelöst. Pilz hat es sich wohl allzu leicht gemacht: Zwei, drei
Wochen zur Überarbeitung und Klärung dieser Fragen hätte er sich
gönnen sollen.
Weber freilich bestünde darauf, dass Pilz die gesamte Arbeit neu
schreiben muss. Das entspricht dem Bild, das der
Medienwissenschaftler Weber offenbar von wissenschaftlicher Arbeit
hat: Für ihn zählt vor allem die schreiberische Leistung und nicht
die forscherische. Das mag in seiner Disziplin so sein, vielleicht,
weil ihr die Themen ausgehen. Man entschuldige die Polemik, aber
dieses Argument hört man wirklich oft: Es sei doch in den Geistes-
und Kulturwissenschaften schon alles erforscht, wer wird da so
unrealistisch und/oder hartherzig sein und die Studierenden auf
originelle Arbeiten drängen?
Natürlich ist das nicht so, es eröffnen sich auch z. B. in der
Altphilologie oder in der Numismatik immer wieder interessante neue
Fragestellungen, sie drängen sich nur nicht so auf wie in der
Biochemie oder Festkörperphysik. Wenn aber in einem Studienfach
tatsächlich die interessanten Themen für Dissertationen rar werden,
dann gibt es eine logische Reaktion: Dann muss man eben bewirken,
dass weniger Maturanten mit diesem Studium beginnen. Auch das ist ein
Argument für das, was man unschön "Studienplatzbewirtschaftung"
nennt.
Um diese wird man nicht herumkommen. Es ist sinnlos, Jahr für Jahr
Horden von mäßig begeisterten Studenten durch Studien wie
Psychologie, Publizistik, Soziologie zu schleusen. Nicht nur, weil
auf die Absolventen keine entsprechenden Arbeitsplätze warten.
Sondern vor allem, weil die Massenabfertigung das Niveau dieser
Studien drückt, weil sie Langweile und mangelnde Originalität
fördert. Und das sind die größten Feinde spannender und produktiver
universitärer Forschung, nicht Selbstplagiate.
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