Zum Inhalt springen

"Die Presse" - Leitartikel: Lagardes Schatten und die Zukunft des Währungsfonds, von Norbert Rief

Ausgabe vom 26.5.2011

Wien (OTS) - Nicolas Sarkozy will seine ungeliebte
Finanzministerin nach Washington loben. Macht sie ihren Job gut, dann ist sie die letzte Europäerin an der Spitze des IWF.

Seit gestern wissen wir also, was die beste Voraussetzung ist, um Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu werden: Man muss dem Regierungschef in der Heimat zum Problem geworden sein. Christine Lagarde mag fachlich durchaus qualifiziert sein, den Job des obersten Währungshüters zu übernehmen. Aber das sind vermutlich ein paar Dutzend andere Politiker auf dieser Welt auch, allen voran der ehemalige türkische Finanzminister, Kemal Dervis.
Was Lagarde aber offenbar am meisten qualifiziert, ist das Faktum, dass Präsident Nicolas Sarkozy sie loswerden will. Der 55-Jährigen droht in Frankreich ein Verfahren wegen Beihilfe zur Veruntreuung öffentlicher Gelder, weil sie sich für den Skandalunternehmer Bernard Tapie eingesetzt hat. Und dieses Verfahren könnte just in den Wahlkampf für die französische Präsidentschaft fallen. Das würde die Chancen Sarkozys auf eine Wiederwahl noch geringer werden lassen, als sie ohnehin schon sind. Also weg mit ihr nach Washington.
Dieser Hintergrund gibt der Kandidatur einer sonst hervorragend geeigneten Kandidatin, über deren Arbeit sogar Konservative wie Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble schwärmen, einen schalen Beigeschmack. Wenn der IWF etwas ganz sicher nicht braucht, dann einen weiteren Chef, der in Handschellen abgeführt wird.
An dieser Stelle muss man - bei allem verwerflichen Verhalten -Dominique Strauss-Kahns politische Verdienste hervorheben. Er hat den Fonds durch die schwierigste Zeit seit seiner Gründung 1944 geleitet. Vor vier, fünf Jahren stellte man die Existenzberechtigung des IWF lautstark infrage: In Zeiten einer blühenden Wirtschaft, in der Geld auf dem freien Markt leicht und zu besten Konditionen erhältlich war, wollte kein Land mehr Kredite vom IWF unter dessen strikten Auflagen. Jetzt spielt die Bank, deren Hauptaufgabe einst die Unterstützung von Entwicklungs- und Schwellenländern beim Aufbau effizienter Strukturen war, eine Hauptrolle bei der Rettung Europas. Und ohne Strauss-Kahn würde die EU die Krise Griechenlands, Portugals und Irlands vermutlich deutlich teurer kommen. Schon mehr als 60 Prozent aller Kredite des IWF gehen an europäische Staaten.
Das mag ein Grund sein, warum sich Europa so schnell auf Lagarde geeinigt und Deutschland auf die Nominierung eines eigenen Kandidaten verzichtet hat: Man will sicherstellen, dass jemand die Gelder verwaltet, der dem Kontinent wohlgesinnt ist. Nicht, dass am Ende ein Kandidat aus einem Schwellenland der lachende Dritte ist, der vielleicht noch meint, die EU soll die Probleme selbst lösen, die sie sich mit der Hereinnahme von nur halbherzig geprüften Eurokandidaten eingehandelt hat.

Vielleicht wäre es ja gar nicht so schlecht, wenn auch Europa einmal die Suppe auslöffeln müsste, die es anderen Staaten nur allzu gern eingebrockt hat. Als Asien und Südamerika in die Krise schlitterten, bestand der IWF - auch damals mit einem Franzosen bzw. einem Deutschen an der Spitze - auf beinharte Sparprogramme. Und wer hat die Welt in die Finanzkrise gestürzt? Es waren jene Staaten, die man den Schwellenländern als Vorbild für gute Regierungsführung und Standards im Finanzsystem genannt hatte.
In der Realität ist die Gefahr freilich nicht sehr groß, dass an der IWF-Spitze plötzlich ein Kandidat aus China, Indien oder Brasilien sitzt, weil jahrzehntelanger Proporz sicherstellt, dass Europa den IWF-, die USA den Weltbank-Chef stellen.
Diese Aufteilung hat heute keinerlei Berechtigung mehr. Der Währungsfonds muss die neuen geopolitischen Verhältnisse widerspiegeln: Die Welt ist nicht mehr eine der G8, sondern eine der G20. Das hat gerade auch die Wirtschaftskrise deutlich gezeigt. Wachstum gab es nur noch in den Schwellenländern, die uns vor noch Schlimmerem bewahrten.
Das wird eine der Aufgaben der neuen IWF-Chefin sein (so ihr nicht ein Strafverfahren dazwischenkommt): das Durchbrechen einer Tradition, die an die Kolonialzeit erinnert. Lagardes größtes Verdienst könnte es sein, sicherzustellen, dass sie die letzte Europäerin an der IWF-Spitze ist.

Rückfragen & Kontakt:

Die Presse
Chef v. Dienst
Tel.: (01) 514 14-445
chefvomdienst@diepresse.com
www.diepresse.com

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS | PPR0001