Opferzahlen „Skandalöse Diskrepanz“

Politiker sind empört über das Auseinanderklaffen der Zahlenangaben zu Opfern rechter Gewalt. Die Regierung spricht, gestützt auf die Zahlen der Polizei in den Ländern, von lediglich 47 Todesopfern. Der tagesspiegel und "Zeit" verzeichneten allerdings 137 Tote.

Konsterniert, teilweise auch empört reagieren die Fraktionen im Bundestag auf die von Tagesspiegel und „Zeit“ recherchierte, hohe Zahl von Todesopfern rechter Gewalt. „Nach 20 Jahren deutscher Einheit verzeichnen wir 137 Tote – das darf nicht der Preis der Wiedervereinigung sein“, sagte Wolfgang Thierse (SPD), Vizepräsident des Bundestages, am Donnerstag. Das Glück der Deutschen, seit 1990 in einem gemeinsamen Staat zu leben, verpflichte „zum bedingungslosen Eintreten gegen rechtsextreme Gewalt“. Die von der Linksfraktion gestellte Vizepräsidentin, Petra Pau, kündigte eine Große Anfrage zu den vielen Fällen rechter Tötungsverbrechen an, die von der Bundesregierung bislang nicht genannt werden.

Die Regierung spricht, gestützt auf die Zahlen der Polizei in den Ländern, von lediglich 47 Todesopfern rechter Gewalt. Tagesspiegel und „Zeit“ kommen, wie am Donnerstag auf Sonderseiten und im Internet veröffentlicht, auf 137 Tote. Beide Zeitungen nennen zudem 14 Verdachtsfälle, bei denen ein rechtes Tatmotiv zu vermuten ist.

Pau hielt der Regierung vor, die offiziellen Angaben seien „immer unglaubwürdig“ gewesen, „egal welche Partei gerade das Sagen hatte“. Die Vizepräsidentin bezog sich auf die Diskrepanz offizieller Zahlen zu früheren Todesopferlisten, die der Tagesspiegel gemeinsam mit der „Frankfurter Rundschau“ veröffentlicht hatte. Zuletzt zählten die Zeitungen im Jahr 2003 bereits 99 Todesopfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung. Die Regierung nannte damals, mit Hinweis auf Angaben der Polizei, nur 39 Tote.

Kritik äußerte auch die Grünen-Sprecherin für Strategien gegen Rechtsextremismus, Monika Lazar. Das „Auseinanderklaffen“ der von Tagesspiegel und „Zeit“ ermittelten Zahlen und denen der Regierung sei „skandalös“. In Teilen von Polizei und Justiz werde das ausführliche Erfassungssystem zur politisch motivierten Kriminalität „kaum wahrgenommen“, sagte Lazar. Das Bundesinnenministerium hielt dagegen, das im Jahr 2001 eingeführte Erfassungssystem sei bei der Polizei „in der Fläche angekommen“. Es gebe allerdings eine „systemimmanente Bewertungsbreite“. Für die Grünen-Abgeordnete Lazar sind jedoch „derart individuelle Ermessensspielräume bei der Bewertung von Tötungsdelikten nicht hinnehmbar“.

Der FDP-Innenexperte Hartfrid Wolff regte an, das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Landesbehörden des Nachrichtendienstes sollten ihre Öffentlichkeitsarbeit ausbauen, um die Gesellschaft stärker für das Problem des Rechtsextremismus zu sensibilisieren. Es sei sinnvoll, auch Angebote für die Justiz zur Verfügung zu stellen. Die Recherchen von Tagesspiegel und „Zeit“ hatten ergeben, dass Richter in Prozessen gegen rechte Gewalttäter einem politischen Tatmotiv kaum nachgegangen waren.

6 Kommentare

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    • von bescheidwisser
    • Thu Sep 16 20:25:18 CEST 2010
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    • (6 Stimmen)

    "die Gesellschaft...

    ... stärker für das Problem des Rechtsextremismus zu sensibilisieren..."

    und was soll "die Gesellschaft" dann mit ihrer gestärkten Sensibilität (die ich mir sehr wünsche!) tun?
    Ich würde sagen: rechtzeitig energisch entgegen treten und argumentieren, auch schon, wenn grenzwertige Sprüche ala Sarrazin auch nur aufkommen...
      • von josse
      • Fri Sep 17 16:39:04 CEST 2010
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      • (3 Stimmen)
      Antwort auf bescheidwisser vom Thu Sep 16 20:25:18 CEST 2010

      Die Verquickung

      von Rechtsextremismus mit dem Namen Sarrazin ist eine Infamie, die aber in der sogenannten Auseinandersetzung mit unbequemen Meinungen nicht nur bei Ihnen sondern in diesem Land Methode hat.
      Die Meinungsfreiheit gilt auch für sogenannte "Rechte", ja auch für Rechtsextreme, soweit sie nicht gesetzlich eingeschränkt ist.
      Auseinandersetzen heisst nämlich nicht den Mund verbieten, wie es bei einer Anti-Sarrzin-Demo zu lesen war: "Sarrazin halt's Maul!"
      Auseinandersetzen heisst Argumente ernst nehmen, analysieren, ggf. zerpflücken, evtl. entkräften oder aber auch Zustimmung zu denselben.
      Aber "Halt's Maul!" ist natürlich "hochintellektuell" - und sehr simpel.
    • von robert56
    • Fri Sep 17 14:00:57 CEST 2010
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    • (4 Stimmen)

    Verzählt

    Da würde ich mal denken hat der Tagesspiegel und die Zeit sich wohl zugunsten einer fetten Schlagzeile verzählt.

    Hab mich auch gestern gewundert wie das je hinkommen soll wenn man die Akten/Personen vergleicht.
    • von Mattoe
    • Fri Sep 17 14:55:25 CEST 2010
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    • (3 Stimmen)

    gedeckelt

    Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass unsere Obrigkeit verschweigen will, dass nicht Linksextrem, sondern Rechtsextrem eine Gefahr für unser Land ist.
    Dem Volk wird bewußt Sand in die Augen gestreut um zu verhindern, dass die Regierungsparteien Wähler verlieren. Dabei weiß der Staat am besten, auch Fernsehsender berichten davon, dass die rechte Gewalt ein Problem für die BRD darstellt.
    Lieber bespitzelt man angebliche Linksextreme, wo sich anschließend heraus stellt, dass hier überhaupt nichts war. Unnütz wurde Geld aus dem Fenster geworfen, dass aber an anderer Stelle fehlt.
    Die Abgeordneten können nur soviel wissen, was man ihnen von der Obrikeit freigibt, so ist es auch beim Afghanistaneinsatz.
    Es wird von der Obrigkeit gedeckelt, wo es nur geht.
    • von derverwalter
    • Fri Sep 17 16:39:23 CEST 2010
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    • (3 Stimmen)

    Statistik

    Ich habe den Eindruck, dass TSP/die Zeit alle Tötungsdelikte erfasst haben, die von rechtsextrem einzustufenden Tätern begangen wurden. Nicht jede dieser Taten war aber zwangsläufig rechtsextrem motiviert. Schon in den hier geschilderten Fällen wurde nicht jede Tat rechtsextrem motiviert beschrieben (Geldeintreiber?). Die amtliche Statistik stellt aber - soweit erkennbar - auf die Tatmotivation ab, nicht darauf, ob der Täter schon einmal rechtsextrem in Erscheinung getreten ist. So ist die Diskrepanz auch ohne Große Parlamentarische Anfrage leicht zu erklären und für Profilierungsbemühungen der Linken denkbar ungeeignet.
    Die Einschätzung, nach welchen Kriterien eine Mordtat als rechtsextrem motiviert einzustufen ist, ist sicher auch nicht immer objektiv eindeutig.

    Eine Obrigkeit gibt es übrigens in Deutschland schon lange nicht mehr ...
    • von Immanuel_Kant
    • Sat Sep 18 13:02:10 CEST 2010
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    Der Beweis...

    ...wie hierzulande Zahlen zum tatsächlichenkatastrophalen Zustand der Demokratie von Regierungskreisen
    bewusst geschönt, verdreht, getürkt, verschwiegen, verfälscht und geleugnet werden!

    Wenn man dies im Hinterkopf hat, wenn man noch dazu die beständig auseinanderklaffenden Zahlenverffentlichungen z.B. bzgl. der Teilnehmer bei Demonstartionen einerseits seitens der Polizei und andererseits seitens der jeweiligen Veranstalter sieht; wenn man noch dazu überlegt, wie diese Betrügerei von ganz oben auf Kosten der Freiheitlichkeit und des Rechtstaats evtl. erst bei noch brisanteren Themen aussehen mag, dann bekommt man eine Gänsehaut beim Nachdenken über das, was sich hier demokratische Berichterstattung nennt!

    Beschämend und unwürdig!

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